Anforderungen an die Beratungspflicht von Sozialleistungsträgern bei erkennbarem dringendem Beratungsbedarf

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Anforderungen an die Beratungspflicht von Sozialleistungsträgern bei erkennbarem dringendem Beratungsbedarf

Beitrag von WernerSchell » 26.11.2018, 06:49

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Anforderungen an die Beratungspflicht von Sozialleistungsträgern bei erkennbarem dringendem Beratungsbedarf

Orientierungssatz *
Ist bei der Beantragung von Grundsicherungsleistungen ein dringender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf eindeutig erkennbar, ist der Sozialhilfeträger zumindest verpflichtet, dem Bürger eine Beratung durch den Rentenversicherungsträger nahe zu legen.
BGH, Urteil v. 02.08.2018, Az.: III ZR 466/16


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Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Die zur Betreuerin bestellte Mutter des geistig schwerbehinderten Klägers (GdB 100) beantragte für diesen 2004 beim Sozialhilfeträger Grundsicherungsleistungen nach §§ 41 ff. SGB XII. Die Grundsicherungsleistung wurde bis 2011 gewährt. Sodann erfuhr die Mutter des Klägers, dass der Kläger auch einen Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung habe. Nach entsprechendem Antrag erhielt der Kläger ab 2011 Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Anspruchsvoraussetzungen für diese Leistung erfüllte er allerdings bereits seit 2004. Bei entsprechender Antragsstellung hätte er sie somit bereits zu diesem Zeitpunkt anstelle der geringeren Grundsicherungsleistung erhalten können (vgl. § 2 Abs. 1 SGB XII). Darüber war die Betreuerin bei der Beantragung von Grundsicherung 2004 nicht beraten worden. Deshalb verlangt der Kläger vom Sozialhilfeträger Schadensersatz in Höhe der Differenz zwischen der erhaltenen Grundsicherung und der Rente wegen voller Erwerbsminderung. Im Rahmen der Revision war vom BGH insbesondere zu klären, ob der fehlende Hinweis auf einen möglichen Rentenanspruch durch die Mitarbeiter des Sozialhilfeträgers einen Beratungsfehler und damit die Verletzung einer Amtspflicht i. S. d. § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 Satz 1 GG darstellt. Dies hat der BGH im vorliegenden Fall bejaht und eine entsprechende Hinweispflicht des Sozialhilfeträgers aus § 14 Satz 1 i. V. m. § 2 Abs. 2 Halbs. 2, § 17 Abs. 1 SGB I abgeleitet. Die Sozialleistungsträger unterlägen besonderen Beratungs- und Betreuungspflichten, weil eine umfassende Beratung Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden Sozialleistungssystems sei. Für Art und Umfang dieser Pflichten komme es nicht auf ein konkretes Beratungsbegehren durch den Bürger an, sondern der Leistungsträger habe von Amts wegen zu prüfen, ob über eine konkrete Fragestellung hinaus Anlass bestehe, auf Gestaltungsmöglichkeiten, Vor- oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit einem Anliegen verbinden. Die Beratungspflicht sei auch nicht auf Normen beschränkt, die der betreffende Sozialleistungsträger selbst anzuwenden habe. Vielmehr könne auch eine Beratungspflicht über Rechte oder Pflichten bestehen, die gegenüber einer anderen Behörde gelten. Dies komme insbesondere dann in Betracht, wenn die Zuständigkeitsbereiche beider Stellen materiell-rechtlich eng miteinander verknüpft oder die jeweiligen Leistungen verfahrensrechtlich verbunden seien. Sofern – wie im entschiedenen Fall – für einen aktuell angegangenen Sozialleistungsträger ein zwingender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf ohne weitere Ermittlungen eindeutig erkennbar sei, habe dieser zumindest die Pflicht, dem Bürger (auch) eine Beratung durch den Rentenversicherungsträger nahe zu legen. Eine umfangreiche Prüfung von Ansprüchen in dem ‚anderen‘ Bereich sei damit allerdings nicht verbunden. Mit seiner Entscheidung knüpft der BGH (wie bereits mit Urt. v. 06.02.1997, Az.: III ZR 241/95) an die Rechtsprechung des BSG zur Beratungspflicht der Sozialleistungsträger (z.B. Urteile vom 22.10.1996, Az.: 13 RJ 69/95, und vom 19.02.1987, Az.: 12 RK 55/84) an und zeigt deren mögliche Bedeutung für Schadensersatzansprüche aus Amtshaftung auf. Es bleibt abzuwarten, ob und welche Ableitungen daraus für das sowohl materiell-rechtlich als auch verfahrensrechtlich eng verzahnte Rehabilitations- und Teilhaberecht entstehen. Dort könnten jedenfalls auch der sozialrechtliche Herstellungsanspruch und seine besonderen Voraussetzungen – wie die Möglichkeit der Beseitigung negativer Folgen durch zulässige Amtshandlung – von Bedeutung sein.

* Leitsatz des Gerichts bzw. Orientierungssatz nach JURIS, redaktionell
abgewandelt und gekürzt

Quelle: Mitteilung Reha-Info der BAR =5/2018
https://www.bar-frankfurt.de/publikatio ... ngsbedarf/
Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk (Neuss)
https://www.pro-pflege-selbsthilfenetzwerk.de/
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