Die 24. Stunde

Rechtsbeziehung Patient – Therapeut / Krankenhaus / Pflegeeinrichtung, Patientenselbstbestimmung, Heilkunde (z.B. Sterbehilfe usw.), Patienten-Datenschutz (Schweigepflicht), Krankendokumentation, Haftung (z.B. bei Pflichtwidrigkeiten), Betreuungs- und Unterbringungsrecht

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Elke
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Die 24. Stunde

Beitrag von Elke » 12.03.2006, 19:43

Die 24. Stunde

Von Barbara Hardinghaus

Während Tausende Ärzte auf die Straße gehen, um gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu demonstrieren, kämpft eine Krankenschwester aus Leipzig ihren eigenen Kampf für eine bessere Versorgung in den Kliniken. Sie hat einen Grund: ihren toten Mann.

Vom Fenster aus sieht sie Krähen emporsteigen, der Himmel über Leipzig ist klar, winterlich blau, und Ursula Beyrich sitzt auf ihrem Sofa und erzählt vom Beginn einer Liebe. Sie lernten sich auf der Tanzfläche kennen, sie, die Krankenschwester, und er, der Konditor, Konrad. Sie mochte es, wie gut sie mit ihm reden konnte und wie gut er kochte. Den Heiratsantrag machte er ihr vor 20 Jahren, auf einer Urlaubsreise nach Kiew.

Ursula Beyrich ist schmal, blond, 44 Jahre alt. Neben den Wolldecken, in die sie sich am Abend dreht, liegen Akten auf dem Sofa. Sie enthalten Befunde, Berichte, Gutachten.

Sie ist Krankenschwester geworden, weil nach einer Blinddarmoperation eine Schwester an ihr Bett trat und lächelte und weil das half. Nach dem Abitur machte sie in Suhl in Thüringen ihre Ausbildung, arbeitete mit schwerkranken Menschen zusammen, in deren Zimmer sie trat und lächelte. Das Krankenhaus war ein sicherer Ort, an dem Hilfe bekam, wer Hilfe brauchte.


Sie sieht über den Balkon hinaus auf andere weißverputzte Mehrfamilienhäuser und in den Hof, wo Kastanien wachsen, der Wind weht. Im Wohnzimmer ist es warm. Die Wände sind orange gestrichen. Sie nimmt die Befunde vom Sofa in die Hand, die Berichte, die Gutachten. Für sie sind es Beweise, auf die sie so oft gewartet hatte, während sie als Krankenschwester arbeitete und lernen musste, dass Krankenhäuser nicht immer sichere Orte waren.

Ursula Beyrich hatte sich in so vielen Momenten etwas Greifbares, etwas Schriftliches gewünscht, mit dem sie hätte rausgehen und sagen können: "Seht her! Hier ist etwas nicht in Ordnung." Sie dachte, sonst geht mal einer drauf.

Es war Konrad, der draufging.

Sie wandert mit ihren Fingernägeln in den Akten herum, tippt über Papier und Klarsichthüllen. Auf einigen Seiten kleben rote Zettel, sie markieren wichtige Stellen. In einem der Gutachten steht: "Die Betreuung war unzureichend, fehlerhaft."

Am Freitag, dem 26. April 2002, um 9.57 Uhr, wurde Konrad Beyrich als Patient aufgenommen im Universitätsklinikum Leipzig. Am Montag, dem 29. April 2002, um 7.30 Uhr, ist er dort gestorben.

"Ich habe lange überlegt, ob ich klagen soll", sagt Ursula Beyrich. Sie ist alleinerziehend, Julia-Maria, ihre Tochter, ist 17.

Sie hat es getan, obwohl ihr Anwalt, der Erfahrung hat mit Krankenhäusern, sie warnte und sagte, es würde schwer werden. Sie hat die Universitätsklinik Leipzig auf Entschädigung verklagt. Gutachter müssen jetzt feststellen, welcher der Ärzte oder Pfleger, die ihren Mann an diesem Wochenende betreut haben, einen Fehler gemacht hat. Ob überhaupt jemand einen Fehler gemacht hat.

Ursula Beyrich geht es nicht um einen einzelnen Menschen, den sie beschuldigen oder bestrafen will, nicht um eine einzelne Klinik.

Sie will einen Missstand aufzeigen und auf etwas hinweisen, eine deutsche Krankheit, die seit Jahren Gegenstand politischer Debatten und Entscheidungen ist, die aber nicht mehr gebracht haben als zusätzliche Kosten für die Patienten und zusätzliche Verwaltungsarbeit für Ärzte.

Die Gesundheitsreform gelang schon damals nicht, als es noch die klassischen politischen Lager gab, Rot gegen Schwarz, und wird wohl auch in Zeiten der Großen Koalition nicht gelingen.

Seit zehn Jahren gehen Ärzte auf die Straße und kämpfen gegen überlange Dienste. Seit zehn Jahren sorgt sich die Ärztegewerkschaft Marburger Bund um ihre jungen Ärzte, die 24 Stunden oder 32 Stunden am Stück Dienst haben, weil Bereitschaftszeit immer noch nicht als Arbeits-, sondern als Ruhezeit gerechnet wird. Manches ist reformiert worden, doch die langen Dienste gehören zu den Gründen, warum die Ärzte auf die Straße gehen, auch dieses Jahr.

Die Gewerkschaft sagt, es gehe auch um Patienten. Ein Arzt, der so lange arbeite, reagiere wie ein Betrunkener mit einem Promille Alkohol im Blut.

Ursula Beyrich sieht vom Wartezimmer ihrer Station, in der sie inzwischen als Therapeutin arbeitet und berät, auf einen grauen Klotz mitten auf dem Gelände. Es ist das "Bettenhaus", ganz oben, in Etage zehn, drittes Fenster von links, hat Konrad gelegen, zwei Meter groß, mit braunen Locken.

Konrad Beyrich war so groß, weil er krank war. Als Kind war er der Schlaks mit der dicken Brille, der, den sie hänselten. Als einer von 10.000 Menschen in Deutschland lebte er mit dem Marfan-Syndrom.

Marfan-Patienten sind oft groß, sie tragen oft Brillen, weil das Bindegewebe ihre Augenlinse nicht mehr hält. Das Bindegewebe im gesamten Körper erschlafft oder wird porös. Auch Gefäße können erschlaffen. Bei Konrad Beyrich war es die Aorta. Er musste eine neue bekommen. Er wurde dreimal operiert. Dreimal lief alles glatt.

Danach war Konrad Beyrich immer in die Reha nach Bad Lausick gekommen. Er war mittlerweile kein Konditor mehr, sondern Diplom-Kaufmann, er hatte studiert und arbeitete in einer Versicherung. Er ging gern dorthin, mit Anzug und Krawatte. Es hänselte ihn keiner. Sie mochten ihn.


Nach der letzten Reha durfte er nicht mehr zurück ins Büro. Die Ärzte sagten, es sei zu anstrengend. Er bekam nun Frührente und machte den Haushalt. Er schälte Kartoffeln, er kochte, wischte den Boden, er kaufte ein. Und wurde depressiv.

Also setzte er sich in seinen silbernen Passat, nicht mehr in Anzug und Krawatte, sondern in Jeans und Pullover. Er fuhr in eine Tagesklinik und begann eine Therapie. Es war jetzt Konrad Beyrichs Seele, die wieder funktionieren musste.

Zu seinem 36. Geburtstag fuhren sie nach Stuttgart ins Musical "Cats", er, sie und Julia-Maria. Er winkt in die Kamera, er lacht auf den Fotos. Eine Woche später starb er.

Es war ein warmer Freitagmorgen, als sie mit ihm in der Wohnung stand und seine Sachen packte. Es war vier Wochen nach Ostern. Seit Stuttgart, seit dem Besuch bei "Cats", hatte Konrad geschwollene Füße, er schlief viel, und nachts schnarchte er, sein Atem stockte, 308-mal in der Stunde. Es bestand der Verdacht auf eine Schlafapnoe. Er sollte in ein Schlaflabor, einen Termin gab es im Mai. "Ich wollte, dass Konrad früher unter Beobachtung war", sagt Ursula Beyrich. Sie besorgte ihm ein Bett in der Universitätsklinik. So fand sie es sicherer. Um acht Uhr sollten sie dort sein.

Ursula Beyrich fuhr mit ihrem Mann im Fahrstuhl in Etage zehn, Station 1/4, Innere Medizin. Sie gingen über einen Flur, der mit PVC ausgelegt war, mittelbraun, kühl.

Um kurz vor zehn wurde die stationäre Aufnahme Konrad Beyrichs registriert. "Starke Luftnot in Ruhe" steht im Anamnesebogen, "Ödeme seit 14 Tagen zunehmend, Schläfrigkeit, Vergesslichkeit, 10 kg Gewichtszunahme in letztem Monat". Der Diagnostikplan sieht eine "Thoraxröntgenuntersuchung" vor, eine Ausschwemmung der Ödeme, Blutuntersuchungen, eine Blutgasanalyse vor allem, um den Sauerstoffgehalt zu bestimmen, "bei Bedarf O2 am Bett".

Sie tippt wieder in den Akten herum. Die Blutgase sind untersucht worden, die Röntgenuntersuchung unterblieb. Von einem EKG findet sich keine Spur.

Sie hält Konrads Pflegebericht aufgeschlagen vor sich. Sie kennt die Abkürzungen und Fachausdrücke in den Berichten, sie übersetzt. Der Frühdienst an diesem Freitag schrieb: "Verdacht auf obstruktives Schlaf-Apnoe-Syndrom, Marfan-Syndrom, Patient kommt zur stationären Aufnahme wegen Ödemen. Guter Allgemeinzustand, guter Ernährungszustand."

Die Beine ihres Mannes waren geschwollen, sein Herz hatte schwer zu pumpen, ihm fehlte Sauerstoff, die Zugänge zu seinem Herzen waren geflickt.

"Erhält O2-Gabe" steht im Bericht des Pflege-Spätdiensts, diverse Medikamente bekommt er, doch von einer Röntgenuntersuchung ist nicht die Rede, ebenso wenig wie von einem EKG.

Eine Klinik am Wochenende ist ein leise surrender Betrieb, nur auf Stand-by.

Ein EKG hätte Klarheit geschaffen über den Zustand seines Herzes, eine Röntgenuntersuchung Klarheit darüber, wie es um seine Lunge stand.

Als sie am Freitagabend telefonierten, schlief Konrad am Telefon ein. Sie legte auf, ging in die Küche und backte einen Quarkkuchen.

Am Samstagmorgen stand sie früh auf und rief ihn an. Es tutete in der Leitung, lange, dann ging er ran. Er schlief gleich wieder ein. Sie wickelte Quarkkuchen in Papier und fuhr los.

Er schlief. Sie weckte ihn, streichelte seinen Kopf, sie saßen am Bett, aßen Quarkkuchen, und Konrad schlief gleich wieder ein. Dass Konrad so viel schlief, war wieder ein Zeichen für zu wenig Sauerstoff. Konrad schlief und schlief.

Es war ruhig draußen auf dem Flur. Keine Stimmen. Es ging niemand über Plastik unter Neonlicht. Niemand saß auf Stühlen. Kein Rattern von rollenden Betten. Nichts. Es war Wochenende im Krankenhaus. Ein Betrieb, der leise surrte, nur auf Stand-by.

Die Sonne fiel auf Konrads Bett. Ursula Beyrich wartete, bis er wach wurde. Sie wollte ihm sagen, dass sie nun gehe. Er wollte sie ein Stück zu den Fahrstühlen begleiten.

Konrad nahm sich seinen dunkelblauen Bademantel, er zog die Hausschuhe an sich heran und schleppte sich. Sie hielt ihn fest.

Sie trat in den Fahrstuhl, drückte "E", die Tür schloss, langsam.

Sie sagt, sie habe schon damals kein gutes Gefühl gehabt.

Sie weiß aber, dass es nicht um Gefühle gehen darf. Sie liest weiter aus dem Bericht vom Samstag. "Frühdienst: ,Keine Besonderheiten', Spätdienst: ,Keine Besonderheiten'."

Kein EKG. Keine Röntgenuntersuchung. Kein Vermerk darüber, dass Konrad immer schläfriger wurde. Kein Eintrag über eine Visite am Samstag. An Wochenenden sind die nur für schwerkranke Menschen vorgesehen, mehr geben die Dienstpläne nicht her. Und als schwerkrank galt er offenbar nicht.

Am Sonntag durfte sie nicht in die Klinik kommen. Konrad wollte es nicht. Er sagte es am Telefon. Seine Stimme klang verwaschen. Er musste ihr versprechen, sich an diesem Tag um einen Arzt zu kümmern. Sie bezweifelte, dass er es tun würde.

"Patient schläft ständig ein (beim Lesen, im Sitzen usw.)" steht dann im Frühdienst-Bericht vom Sonntag, und unter "Ärztlicher Verlauf" wurde eingetragen: "Patient klagt über zunehmende Unterschenkel-Ödeme", trotz Entwässerungstabletten. "Pralle Unterschenkel, Haut lässt sich eindrücken", wurde notiert.

Der Kohlendioxidgehalt in seinem Blut, das ergab ein Test am Sonntag um 19.08 Uhr abends, war gestiegen. "Keine Anordnung" steht im Spätdienst-Pflegeprotokoll. Kein Röntgen, kein EKG.

Konrad war zurückhaltend und schweigsam, abwartend. "Keine guten Eigenschaften für ein Krankenhaus", sagt Ursula Beyrich. Sie selbst ist zupackend. "Ich sollte nicht kommen, weil er Angst hatte, ich würde die halbe Station verrückt machen."

Also fuhr Ursula Beyrich mit ihrer Schwiegermutter zum Kaffeetrinken in ein Panorama-Restaurant in die Leipziger Innenstadt. Sie hatten von dort aus einen herrlichen Blick über die ganze Stadt. Ursula Beyrich sah auf den grauen Klotz mitten auf dem Gelände des Universitätsklinikums. Sie sah immer zu ihrem Mann.

Am Abend telefonierte sie mit ihm. Er sagte, ein Arzt habe jetzt angeordnet, er solle die Füße hochlegen. Am Ende des Gesprächs sagte Konrad: "Na, dann schlaf schön, mein Schatz."

Um 3.30 Uhr, am Montagmorgen, trat eine Nachtschwester in Konrads Zimmer. In den Pflegebericht schrieb sie: "Patient hatte etwas Nasenbluten. Patient war diese Nacht etwas verwirrt."

Ursula Beyrich arbeitete früher selbst oft nachts und weiß, was Nächte für Krankenschwestern bedeuten. "Sie konnten einsam sein, lang und schwarz", sagt sie. Oft lief sie umher, sah in die Zimmer und musste entscheiden, ob sie einen Arzt holte oder nicht. Es waren junge Ärzte, die müde waren und blass, die 24 Stunden gearbeitet hatten und gerade mal ruhten.

Oft dachte sie an die Ärzte. Dann an die Patienten. Sie fragte sich: Soll ich, soll ich nicht?

"Da steht man zwischen Baum und Borke", sagt sie. Sie sei mal beschimpft worden, weil sie einen Arzt holte wegen nix. Das seien schwierige Entscheidungen.

In der Nacht zum Montag ging Ursula Beyrich in ihrer Wohnung auf und ab. Als die Sonne aufging, rief sie Konrad an. Es tutete in der Leitung, lange. Niemand ging ran. Sie versuchte es wieder.

Sie setzte sich ins Auto. Sie hatte Panik. Als sie auf die Station kam, waren da plötzlich viele Ärzte. Sie rannten. Einer sagte: "Ist das die Hinterbliebene von Beyrich?"

Dann trafen sich ihre Blicke.

Er kam auf sie zu, jung und müde und blass. Er redete. Viel. Ununterbrochen. Sie hätten alles versucht.

Ursula Beyrich stand nur da. Um sie herum Stimmen. Sie schüttelte den Kopf, schaute auf den diensthabenden Arzt, der so viel sprach.

In ihrer stillen Leipziger Wohnung greift sie sich wieder ihr Gutachten, da steht es, ein Sachverständiger hat es festgestellt. "An der ärztlichen Versorgung während des Krankenhausaufenthaltes muss Kritik geübt werden. Die Versorgung an dem Wochenende war nicht optimal."

Das Gutachten des Sachverständigen sagt: "Die Versorgung war nicht optimal."

Das fehlende EKG, die fehlende Röntgenaufnahme. Die fehlende Visite am Samstag, und dann am Sonntagabend wurde aus der Müdigkeit Konrad Beyrichs "keine Konsequenz hinsichtlich einer Adaption der applizierten Sauerstoffmenge gezogen".

Er bekam keine Atemmaske, die seiner geschwächten Lunge hätte helfen können. Und er blieb auf der Normalstation, obwohl, so schreibt der Gutachter, spätestens "zum Zeitpunkt der Verschlechterung am Sonntagabend eine Intensivüberwachung notwendig gewesen wäre".

Der diensthabende Arzt von damals arbeitet noch an der Universitätsklinik. Er ist nicht sehr groß, er hat schmale Lippen und wollte schon als Kind Arzt werden. Sein Vater war Arzt, seine Mutter Arzthelferin, sein Bruder wurde Physiker.

Und er wollte nicht nur die Theorie. Er wollte in der Wissenschaft arbeiten, aber auch mit Menschen. Er studierte Humanmedizin in Deutschland, arbeitete und forschte in Deutschland und den USA. Er kam zurück an das Universitätsklinikum Leipzig, als Assistenzarzt in der Medizinischen Klinik und Poliklinik II.

Er kannte die Bilder, die Kollegen auf der Straße mit Trillerpfeifen zeigten. Er war nie dabei. Er beschloss, Professor zu werden. Aber dafür musste er zunächst Arzt sein, junger Arzt, mit Schichten, die 24 Stunden dauerten oder 32 Stunden ohne Pause.

Vier Wochen nach Ostern 2002 war wieder so ein Dienst. Es war ein Sonntag, ein sonniger Sonntag, als er am Morgen in die Klinik kam. Es war acht Uhr.

Seine eigene Station lag drüben im Altbau, doch zuständig war er jetzt für zwei Stationen im Bettenhaus, 120 Patienten, 24 Stunden lang.

Hier kannte er die Patienten nur aus den Akten. Er nahm seinen weißen Kittel und fuhr mit dem Fahrstuhl hoch in Etage zehn. Die Schicht begann, er arbeitete, die Sonne schien.

Um elf Uhr morgens las er die Akte eines Patienten, der 36 Jahre alt war, der pralle Unterschenkel hatte, in dessen Haut sich Dellen drücken ließen. Er ordnete an, der Patient solle seine Füße hochlegen.

Dann kam die Nacht. Sie kann auch für Dienstärzte einsam, lang und schwarz sein. In der Nacht gab es für Dienstärzte, wie er einer war, niemanden mehr, der das, was er entschied, überprüfte. Es gab die Möglichkeit, den Oberarzt anzurufen, aber der kannte die Patienten häufig auch nicht persönlich und war vielleicht zu Hause und gerade eingeschlafen.

Und so stehen nicht nur Nachtschwestern, wie Ursula Beyrich es nennt, nachts zwischen "Baum und Borke", sondern auch Dienstärzte und somit die Patienten.

"Patient war zum Wecken nicht ansprechbar, atmete schnappig, speichelt, Pupillenreaktion negativ". Das ist der Pflegebericht vom Montagmorgen.

Der Notruf der Nachtschwester erreichte den diensthabenden Arzt um 6.30 Uhr. Nach nur fünf Minuten stand er am Bett des bewusstlosen Konrad Beyrich.

Er alarmierte sofort zwei Kollegen. Sie waren beide schnell da und versuchten, Konrad Beyrich zurück ins Leben zu holen. Sie schnitten ihm den Hals auf, nahmen einen Schlauch, versuchten es mit Sauerstoff, 20, 30, 40 Minuten. Während sie das taten, klingelte das Telefon pausenlos.

Um 7.30 Uhr gaben sie auf. "Atemstillstand und Herzstillstand" notiert das Protokoll. Es war die 24. Stunde für die drei Ärzte. Sie waren jung und müde und blass.

Sie gingen hinaus auf den Flur über mittelbraunes PVC, sie sprachen, laut, bis der diensthabende Arzt die Frau aus dem Fahrstuhl kommen sah, blond und schmal. Er ging auf sie zu. Er redete. Viel. Ununterbrochen. Sie hätten keinen Fehler gemacht.

Die Frau stand nur da, schüttelte den Kopf.

Vier Jahre später sitzt der diensthabende Arzt von damals in der Kantine des Universitätsklinikums an einem runden Tisch in einer Ecke. Er trägt dunklen Anzug und Krawatte. Er will Professor werden, seine Publikationsliste ist lang, und er sagt noch immer, sie hätten keinen Fehler gemacht.

Ein Arzt, der zu lange arbeitet, reagiert wie ein Betrunkener mit einem Promille.

Er ist gekommen, um das zu sagen. Er darf über den Fall, den "Fall Beyrich", wie er ihn nennt, nicht sprechen. Er will es auch nicht. Er spricht erst ohne Vorbehalt über die Lage an den Kliniken und will später doch nicht mehr beim Namen genannt werden. Er hat Angst, es könne ihm schaden.

Neben ihm am Tisch sitzt noch eine Frau, der Arzt hat sie mitgebracht. Sie ist größer als er, breiter als er, spricht lauter als er, klarer, weniger ängstlich. Sie ist mitgekommen, weil sie findet, dass es bei dem, was Ursula Beyrich meint, nicht um Schuld geht oder um Strafe, nicht um das Gestern, sondern um das Morgen.

Reinhild Melcher ist 60 Jahre alt und Spezialistin in der Frage, was an deutschen Krankenhäusern nicht stimmt. Sie freut sich, dass sich plötzlich so viele interessieren für das, was sie seit Jahren tut. Vielleicht strahlt diese Frau deswegen so und redet so laut und so klar und so sicher.

Sie kennt die Gründe auswendig, warum junge Klinikärzte auch 2006 noch auf die Straße gehen: Junge Ärzte arbeiten zu viel, bis zu 80 Stunden und mehr statt tariflich geregelter 40 Stunden in der Woche. Sie verdienen zu wenig, im Schnitt 11,80 Euro brutto pro Stunde. Sie haben zu wenig Zeit für Patienten, sagt sie. 38 Prozent ihrer Arbeitszeit müssen Ärzte inzwischen mit Papierkram verbringen, während es kranke Menschen gibt, die ihre Hilfe brauchen.

"Muss man sich mal vorstellen", sagt Melcher. Der Arzt sitzt da, schweigt, nickt.

Die Ärztegewerkschaft spricht von "Job-Trauma", sie veröffentlicht Zahlen zu hohen Selbstmordraten unter jungen Ärzten.

Reinhild Melcher war lange die Vertreterin aller Angestellten am Universitätsklinikum. Heute ist sie die Personalrätin und leitet eine Projektgruppe, die 2004 in Leipzig etwas eingeführt hat, das 2007 alle 2166 Krankenhäuser in Deutschland einführen müssen, es heißt "Arbeitszeitgesetz", ist EU-Recht und verbietet 24-Stunden-Schichten, es verbietet müde Ärzte.

Reinhild Melcher hat das Konzept dazu. Ihr Konzept ist das Konzept der Zukunft.

Sie hat es in ihrem Kopf entwickelt und in den PC getippt, in die Tabellen, Übersichten, auf Folien. Sie trägt Strickpullover, blitzblanke Brille und Kurzhaarfrisur. Sie kennt auch das Arbeitsgesetz auswendig, jeden Paragrafen.

"Es geht um Optimierungen", sagt sie.

Sie legt das Konzept auf den Tisch, neben den Arzt, der stumm bleibt.

Reinhild Melcher blättert durch die Seiten, mit denen sie seit einigen Monaten durch Deutschland reist, zu Kliniken und Ministerien, die sehen wollen, wie Leipzig das macht, was es kostet und was es bringt, dieses Arbeitsgesetz. Sie will eigentlich das Gleiche wie Ursula Beyrich. Sie will mehr Sicherheit in deutschen Krankenhäusern.

"Kürzere Arbeitszeiten bedeuten mehr Qualität", sagt Melcher. Es gebe Studien, die das belegen. Bei Assistenzärzten, die länger als 24 Stunden arbeiten, liegen die schweren Behandlungsfehler um rund 36 Prozent höher als bei kürzeren Diensten. Sie sagt diese Sätze leiser als die anderen.

Es ist der Moment, in dem der Arzt in das Gespräch zurückkehrt. Er sagt, die 24-Stunden-Schichten früher seien schlimm gewesen, ein Knochenjob. Oft sei er müde gewesen, wenn er entscheiden musste, erschöpft. Er habe manchmal innerhalb weniger Sekunden entscheiden müssen.

Er will wieder mitreden, jetzt, wo alles geglättet ist am Tisch, das Universitätsklinikum, wie Reinhild Melcher sagt, wieder "als Vorreiter dasteht", das System umgestellt ist, die Ärzte nicht mehr müde sind, weil sie nur noch zwölf Stunden arbeiten am Stück, und das Problem gelöst scheint.

Reinhild Melcher steckt ihr Konzept zurück in die Tasche, zieht sich ihren Mantel über, sie will gehen, und der Arzt steht mit ihr auf. Er steht nun da, nicht sehr groß, schmale Lippen, unsicher, zögernd, und sagt, er wolle doch noch etwas sagen zu Konrad Beyrich, dem "Fall Beyrich". "Herr Beyrich war ein schwerkranker Mann." Er sei zum Sterben auf die Station gekommen.

Ursula Beyrichs Anwalt hatte recht, als er sagte, er kenne sich aus mit Krankenhäusern. Dass es schwer werde mit der Klage. Sie muss nicht nur nachweisen, dass Fehler gemacht wurden, sondern auch, dass ihr Mann nicht gestorben wäre, hätte niemand diese Fehler gemacht.

Drei Kilometer von der Klinikkantine entfernt klappt Ursula Beyrich ihre Akten zu. Sie sagt, dass Krankenhäuser für sie heute Unternehmen seien wie die Telekom oder die Bahn AG, von denen man wisse, dass immer wieder was schieflaufe.

Sie erzählt, dass ihr Mund noch immer trocken wird, wenn sie heute während ihrer Arbeit rüber ins Bettenhaus gehen muss. Es gibt dort das neue Konzept, aber in der Nacht gibt es noch immer keinen Arzt mehr als früher.

Sie sitzt dabei wieder auf dem Sofa. Sie braucht keine Unterlagen mehr, keine Akten. Das Ende dieser Liebe hat sie im Kopf.

Sie setzt ein, wo sie aufhörte, auf dem Flur in der Klinik mit dem Arzt, der ihr sagte, sie hätten keinen Fehler gemacht. Sie bekam eine Tüte, die Nachlasstüte, sein Portemonnaie, seine Uhr, seinen Ehering.

"So", habe die Schwester gesagt, "und jetzt müssen Sie runtergehen, den Rest regeln."

Ursula Beyrich fuhr ins Erdgeschoss. Ins Standesamt. Gab seinen Ausweis ab. Beglich seine Telefonkarte, vier Euro glatt. Beantragte die Sterbeurkunde. Meldete ihn ab.
Quelle:

http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,404277,00.html
Ehemann Hirnblutung 1995, Hemiplegie rechts, schwere Globalaphasie, Epilepsie, Pflegestufe 3. Pflege Zuhause

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